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Das Pentagramm aus Kreide

Das Pentagramm aus Kreide

Das Pentagramm aus Kreide

Die Schule war alt genug, um Geheimnisse zu haben, und jung genug, um sie noch nicht gut zu verbergen. Im Naturkundesaal, in dessen Schränken Torfmoose in Gläsern schwammen und Skelette klapperten, fanden drei Schüler eines Abends ein Pentagramm aus Kreide. Nicht groß, nicht dramatisch. Sorgfältig, fast zärtlich gezeichnet. In den Ecken standen Zeichen, die wie auf halbem Weg zu Buchstaben angehalten hatten.

„Wer war das?“, flüsterte Mina, die an alles glauben wollte, was man flüstern konnte. „Vielleicht ein Ritual“, murmelte Jarek und tat so, als wäre er nicht nervös. Nur Sumi, die in Zahlen dachte, kniete sich hin und betrachtete die Linien. „Es ist nicht sauber“, sagte sie. „Aber absichtlich. Wie eine Frage.“

Sie setzten sich im Kreis, nicht ganz auf die Linien, aus Respekt vor Dingen, die man nicht verstand. „Wenn wir etwas rufen, kommt es dann?“, fragte Mina. „Vielleicht ruft es ohnehin“, sagte Sumi. „Vielleicht ist das Pentagramm nicht zum Rufen. Sondern zum Antworten.“

Sie beschlossen, nicht zu rufen. Sie beschlossen, zu hören. Jeder legte einen Gegenstand in die Mitte: Mina ihre Haarspange, Jarek einen Schraubenschlüssel, Sumi einen Taschenrechner. „Das ist albern“, sagte Jarek, „aber auf eine gute Art.“ Draußen setzte Regen ein, leise. Drinnen war ein Summen, wie in einem alten Fernseher, der ausgeschaltet ist. Minuten vergingen, in denen nichts geschah und viel.

Mina dachte an ihre Großmutter, die ihr einmal gesagt hatte, dass jeder Mensch fünf Enden habe wie ein Stern: Kopf, zwei Hände, zwei Füße. „Und die Mitte?“, hatte Mina gefragt. „Die ist kein Ende“, hatte die Großmutter gelacht. „Die ist der Grund.“ Jetzt, im Naturkundesaal, legte Mina die Hand auf den Boden. Die Kreide war rau. „Ich will nicht mutig sein“, flüsterte sie in die Luft. „Ich will nur nicht feige.“

Jarek dachte an seinen Vater, der in der Werkstatt mit Metall sprach, als sei es ein stures Tier. „Alles hat eine Natur“, hatte er gesagt. „Deine Aufgabe ist nicht, sie zu brechen. Deine Aufgabe ist, mit ihr zu arbeiten.“ Jarek sah den Schraubenschlüssel an und fühlte sich, als hätte er einen Alten Freund vorgestellt, der eigene Wege kannte.

Sumi zählte die Winkel. Fünf Spitzen, jeder Winkel 36 Grad. Fünfmal 36 ist 180. Ein Kreis aus Ecken. „Unmöglich, und doch“, murmelte sie. Sie dachte an Beweise, die man nicht aufschreibt, weil man sie weiß wie Atmen. Und da, ganz leise, hörte sie eine Stimme ohne Sprache, die sagte: „Ordnung ist freundlich. Aber Freundlichkeit ist nicht Ordnung.“

Der Regen wurde stärker. Im Flur knackte eine Leitung. Irgendwo lachte jemand, der zu spät war. Das Pentagramm blieb Kreide, blieb Linie. Und doch, vielleicht nur, weil drei Menschen in Ruhe saßen und nicht forderten, veränderte sich das Zimmer. Nicht sichtbar. Spürbar wie die Sekunde, bevor man etwas begreift. In den Gläsern schienen die Moose näher an das Glas zu rücken. Das Skelett stand aufrecht; aber das tat es immer. Mina sah Sumi an, Sumi sah Jarek an, und die Angst, die sie mitgebracht hatten, war nicht fort—aber sie war nicht mehr allein.

„Ich glaube“, sagte Sumi schließlich, „dass dieses Zeichen keine Tür ist. Es ist ein Spiegel. Nicht für Gesichter. Für Haltungen.“ Jarek, der sonst lachte, wenn es ernst wurde, nickte. „Dann… lassen wir etwas hier? Nicht als Opfer. Als Versprechen.“

Sie löschten das Licht, ließen aber die Tür einen Spalt offen. Die drei Gegenstände blieben im Pentagramm. Am nächsten Morgen fand der Hausmeister sie, runzelte die Stirn, legte alles auf den Lehrertisch. Der Kreide-Stern hatte den Regen der Nacht überstanden, obwohl die Fenster undicht waren. Später, im Unterricht, sah Miss Rivas das Pentagramm, seufzte, nahm eine Bürste—und hielt inne. Sie ließ die Kreide stehen. Stattdessen schrieb sie an die Tafel: „Pentagramm: Schutz, Maß, Mensch.“ Dann drehte sie sich um und sagte: „Wir reden heute über Formen, die denken.“

Die Schule blieb alt und jung. Das Pentagramm wurde irgendwann geputzt. Doch die drei, die dort gesessen hatten, trugen etwas mit: ein leises, aber zuverlässiges Gefühl, dass Magie nicht aus dem kommt, was man ruft, sondern aus dem, was man bereit ist, nicht zu vertreiben.

 

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