Milan träumte seit Wochen von einem Raum, den er nie im Wachleben betreten hatte. Die Wände waren grau, aber die Decke leuchtete in einem tiefen, beruhigenden Blau. Er wusste, dass in einer Ecke ein Kasten stand, den er nicht öffnen wollte. Im Traum wanderte er oft um ihn herum, manchmal Tage, manchmal nur Minuten.
Eines Abends traf er auf einer Lesung eine Therapeutin, die von „Schattenarbeit“ sprach – dem Mut, die Teile in uns zu betrachten, die wir verstecken. Er erzählte ihr von dem Raum. Sie lächelte sanft. „Der Kasten gehört dir“, sagte sie. „Aber erst, wenn du ihn öffnest, hört der Traum auf, dich zu rufen.“
In der folgenden Nacht stand Milan wieder im Raum. Er kniete vor dem Kasten. Seine Hände zitterten, als er den Deckel hob. Drinnen lag ein kleiner Junge, nicht ängstlich, nicht wütend – nur wartend. Milan erkannte sich sofort. Der Junge hielt ein Notizbuch in der Hand, eines, das Milan mit acht Jahren geführt hatte, bevor er es zerrissen und weggeworfen hatte.
Er setzte sich neben ihn, und sie blätterten gemeinsam durch Seiten, auf denen Zeichnungen, geheime Wünsche und kleine Gedichte standen. „Warum hast du mich hier gelassen?“, fragte der Junge leise. Milan antwortete nicht sofort. Er legte stattdessen den Arm um ihn. „Weil ich dachte, dass du mich schwächer machst“, sagte er schließlich. „Aber du bist der Teil, der mich erinnert.“
Als Milan erwachte, wusste er, dass der Raum nicht mehr auf ihn wartete. Doch wenn er die Augen schloss, konnte er noch immer das Blau der Decke sehen – wie einen Himmel, unter dem beide Platz hatten: der Erwachsene, der weit gegangen war, und das Kind, das nie aufgehört hatte, zu träumen.