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Der Spiegelmacher von Valdoria

 

Der Spiegelmacher von Valdoria

Valdoria lag an einer alten Handelsstraße, die mehr Gerüchte als Waren trug. In einer Seitengasse, wo die Steine warm waren vom Atem des Ofens der Glasbläser, hatte der Spiegelmacher Iacopo seine Werkstatt. Seine Spiegel waren berühmt, doch nicht wegen der Schärfe ihrer Bilder, sondern wegen dem, was sie verbergen konnten. Man sagte, Iacopo mische in seine Politur eine Prise Asche von zerrissenen Briefen und den Tau der ersten Morgenstunde. So zeigten seine Spiegel die Welt, wie sie ist, aber sie ließen offen, wer man darin zu sein wünschte.

Eines Tages trat eine Kundin ein, verhüllt, als sei sie ein neuer Mond. „Ich will einen Spiegel“, sagte sie, „der mir nicht mich zeigt.“ Iacopo sah sie an, und in dem Blinzeln zwischen zwei Atemzügen erkannte er in ihrem Blick die Müdigkeit derer, die zu lange jemand anderes gewesen waren. „Ich kann dir einen Spiegel machen“, sagte er, „der dich zeigt, wie du dich noch nicht wagst zu sehen.“

Er blies eine Scheibe, polierte sie in langen Kreisen, bis das Glas atmete. Dann sprach er die drei Sätze, die er nur selten sagte: „Lass dich nicht erschrecken. Stell keine Fragen. Und wenn du dich siehst, schau nicht weg.“ Die Frau nickte, als nehme sie eine Last entgegen, die sie schon kannte.

Zu Hause stellte sie den Spiegel zwischen zwei Fenster. Er fing den Morgen und den Abend zugleich, ein Rahmen für Übergänge. Tage vergingen, nicht viele, aber genug, damit Gewohnheit so tat, als würde sie bleiben. Eines Abends, als das Licht dünn wurde wie Papier, sah sie im Spiegel nicht ihr Gesicht. Sie sah eine Tür in einer Mauer, die sie seit Kindheit kannte. Dahinter lag ein Garten, aber nicht der alte mit den Lavendeln und dem Brunnen. Dieser Garten war unberührt, noch namenlos. Sie legte die Hand auf das Glas. Es war kühl wie Wasser. „Ich bin nicht hier“, flüsterte sie, „und doch…“ Der Spiegel antwortete nicht. Spiegel antworten nicht; sie erinnern.

In den Nächten, die folgten, wechselten die Bilder. Mal sah sie sich schreiben—nicht die Briefe, die sie seit Jahren unterschrieb, pflichtbewusst, geschäftig, sondern Gedichte, die nach Salz und Apfel rochen. Mal sah sie sich gehen—nicht den Korridor entlang, in dem Fotos hingen von Menschen mit derselben Stirn, sondern einen Pfad am Flussufer, barfuß. Und einmal, als es draußen regnete, sah sie sich tanzen, unbeholfen und kindlich, aber frei. Hinter all dem lag immer die Tür in der Mauer.

Am siebten Abend—vielleicht war es der fünfte, vielleicht der neunte, denn Zeit zählt anders, wenn man sie in Spiegeln verbringt—hörte sie ein Klicken. Die Luft in dem kleinen Zimmer wurde ein Schimmern, so als ob zwischen zwei Herzschlägen der Vorhang zwischen den Welten dünner würde. Die Tür im Spiegel ging auf. Keine Musik, kein Chor. Nur das Geräusch von Schritten auf Kies. Es waren ihre.

Am nächsten Morgen brachte sie den Spiegel zurück. „Er zeigt mich zu deutlich“, sagte sie. „Ich habe Angst, dass ich mich erkenne.“ Iacopo nickte, denn viele fürchten die Klarheit mehr als das Dunkel. „Behalt ihn noch einen Tag“, bat er. „Und wenn du dann immer noch Angst hast, bring ihn zu mir. Ich werde ihn blind machen.“ Sie hielt inne, betrachtete die Falten in seinen Händen, in denen Geschichten wohnten. „Nein“, sagte sie dann, „nicht blind. Aber… setz einen Rahmen darum. Einen, der erinnert, dass ich wählen kann.“

Iacopo schnitzte ihr einen Rahmen aus Olivenholz, schlicht, warm, mit einer kaum sichtbaren Kerbe oben links—ein Hinweis, dass ein Spiegel zwar zeigt, nie aber zwingt. Die Frau nahm den Spiegel mit, und in den Wochen, die folgten, wurden ihre Tage nicht plötzlich anders. Aber manchmal blieb sie vor der Tür im Spiegel stehen, holte tief Luft und trat durch. Und wenn sie zurückkam, war etwas an ihr heiter und ernst zugleich, eine Ruhe, die man auch in der Gasse spürte, wenn sie daran vorbeiging. Valdoria hatte viele Spiegel. Dieser eine zeigte, wie aus Furcht Spiel wird, aus Spiel Mut, und aus Mut—ein Leben.

 

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