Das Salzmoor begann dort, wo die Felder aufhörten, ein schimmerndes Zwischenreich aus Wasser, Nebel und altem Schweigen. Wer zu weit hineinging, hörte irgendwann seinen eigenen Namen, als rufe ihn das Moor in einer Stimme, die er liebte und fürchtete. An der Kante dieses Schweigens stand ein Haus mit verwitterten Schindeln, und darin lebte Mirabel, die Hexe. Man traf sie selten im Dorf. Wenn doch, dann hatte sie stets den Geruch von Regen in den Haaren, getrockneten Thymian in den Taschen und einen Blick, der an dir vorbeisah, als halte sie Ausschau nach etwas, das eben erst hinter dir vorbeigegangen war.
Als im Dorf die Kinder zu husten begannen, rau und blutig wie Rost, schickte der Bürgermeister widerwillig einen Boten zu Mirabel. Man kannte Geschichten von ihr: dass sie die Salzlinien im Moor zu lesen wusste wie andere ein Buch, dass sie mit den Vögeln stritt und mit dem Wind scherzte. Der Bote kehrte bleich zurück und sagte, Mirabel habe um Einbruch der Dämmerung zum Rand des Dorfplatzes geladen, mit einem Kessel, einer Schale, einer geschlossenen Nuss.
Die Dämmerung kam, und mit ihr ein Wind, der die Wäsche auf den Leinen wie Gespenster tanzen ließ. Mirabel trat aus dem Schatten der Linden, legte den Kessel auf drei Steine und die Schale daneben. „Euer Atem ist gebunden“, sagte sie, „nicht von Krankheit allein, sondern von etwas, das ihr nicht seht. Es hängt in euren Dächern, eurem Streit, euren unausgesprochenen Worten.“
Sie füllte den Kessel mit Wasser aus dem Brunnen und warf ein Bündel Salzgräser hinein. Es roch nach Meer an einem Ort, der keines war. Dann zeigte sie die Nuss: groß, schwarz, unversehrt. „In euch allen gibt es eine Nuss“, sagte sie, „eine, die nie geöffnet wurde. Darin liegt ein Ton, der euer Zuhause ist.“ Sie legte die Nuss in die Schale, hob diese an die Lippen und hauchte dagegen. Ein leiser Klang, kaum hörbar, vibrierte durch die Luft. Die Kinder hörten zuerst: Sie hoben die Köpfe, die Augen weiteten sich, als erkannten sie ein Lied, das man ihnen als Säuglingen vorgesungen hatte.
Mirabel führte die Menschen in einer Reihe am Kessel vorbei. „Sag nichts“, wisperte sie jedem zu. „Hör nur, was du nie zu Ende gehört hast.“ Und während die Reihe langsam schritt, hörte das Dorf sein eigenes Zittern. Sie hörten die Nächte, in denen man „Schon gut“ gesagt und „Bleib“ gemeint hatte, hörten die langen Jahre, in denen man die Hand nicht ausstreckte aus Stolz oder Müdigkeit. Sie hörten die Sätze, die am Gaumen klebten wie Pech und nie ausgesprochen worden waren.
Am Ende der Reihe stand der Bürgermeister. Seine Hände waren schwer von Ringen, sein Gesicht ledrig von Jahren am Tisch. Mirabel legte ihm die Nuss auf die Handfläche. „Schlag sie nicht auf“, sagte sie. „Halt sie nur. Spür ihr Gewicht. Sag mir, wessen Stimme darin wohnt.“ Der Mann schloss die Finger. Ein Zucken ging über sein Gesicht, das so plötzlich weich wurde, dass es weh tat, hinzusehen. „Mein Bruder“, flüsterte er. „Er ist fortgegangen, da waren wir jung. Wir waren stolz. Wir…“
„Schon gut“, sagte Mirabel und lächelte zum ersten Mal. „Es wird regnen.“ Und es regnete. Nicht das flache, kalte Wasser, das Felder unterspült, sondern ein runder, warmer Regen, der sich anfühlte wie Hände, die einem den Staub aus dem Haar streichen. In den Tagen danach ließ das Husten nach. Nicht über Nacht, nicht wie ein Trick. Eher wie eine Tür, die man seit Jahren verklemmt glaubte und die sich, sobald man den Riegel aufhob, langsam und leise öffnete.
Mirabel kehrte ins Moor zurück. Im Dorf sprach man dankbar von ihr, manche wieder misstrauisch. Aber wenn nun bei Sturm der Wind in den Ritzen sang, hörte man genauer hin. Und manchmal, in sehr klaren Nächten, konnte man hören, wie irgendwo im Moor eine Nuss aufsprang—und ein Ton entwich, der an Kindheit erinnerte. Da wussten die Leute: Heilung ist die Kunst, einem Lied zuzuhören, das man längst vergessen glaubte.