In der Stadt gab es ein Viertel, in dem jede Straße knapp war, jedes Lachen zu laut, jede Hoffnung zu teuer. Dort arbeitete Nahla in einem Callcenter, in dem man mit Stimmen Waren verschob. An den Wänden hingen Poster mit Wörtern wie „Ziel“ und „Bonus“, die sich anfühlten wie Etiketten auf leeren Gläsern. Nahla trug eine rote Schnur ums Handgelenk, die ihre Großmutter ihr gegeben hatte. „Für Wege, die dich sonst verschlucken“, hatte sie gesagt.
Eines Nachts, nachdem sie zu lange gearbeitet und zu wenig geschlafen hatte, sah Nahla im Bus eine Linie auf der Straße, die es am Tag nicht gab. Sie war dünn wie ein Haar, leuchtend wie ein Gedanke, der gerade erst geboren wurde. Die Linie bog ab in eine Seitenstraße, die Nahla nie gegangen war. Ohne zu wissen, warum, stieg sie an der nächsten Haltestelle aus.
Die Linie führte sie an Mauern vorbei, die voller Namen waren—manche mit Herz, manche mit Wut. Dann eine Tür, halb offen, dahinter Treppen, die nach Keller rochen. „Natürlich“, murmelte Nahla. „Wenn Magie in dieser Stadt wohnt, wohnt sie tief.“ Unten, in einem Raum mit blankem Beton, saßen Menschen im Kreis. Kein Altar, keine Kerzen, nur ein Wärmegerät, das auf halber Kraft arbeitete. Eine Frau mittleren Alters sah auf. „Komm“, sagte sie. „Setz dich. Wir sind die Linienleser.“
Sie erzählten Nahla, dass es in jeder Stadt Linien gebe—rote, blaue, goldene, unsichtbare—die nicht Straßen seien, sondern Verbündete. Man könne sie nachts sehen, wenn man bereit sei, sich von ihnen führen zu lassen. „Wir folgen ihnen“, erklärte die Frau. „Nicht, um irgendwo anzukommen. Um nicht zu vergessen, dass wir verbunden sind.“ Nahla verstand nicht alles, aber sie mochte, wie die Worte Platz ließen, statt ihn zu nehmen.
In den folgenden Wochen folgte Nahla der roten Linie, wann immer sie konnte. Einmal führte sie sie in einen Park, in dem eine alte Frau auf einer Bank saß, die Tauben fütterte. „Du bist spät“, sagte die Frau, ohne aufzusehen. „Ich wusste, jemand kommt.“ Sie erzählte Nahla, wie sie als Kind die rote Linie gesehen hatte, wie sie sie durch ein Kriegslager getragen hatte, durch Heirat, Verlust, Wiederbeginn. „Die rote Linie ist kein Glück“, sagte sie. „Sie ist ein Versprechen: dass es einen Weg gibt, der dich nicht verrät.“
Ein anderes Mal führte die Linie Nahla in eine leerstehende Bibliothek. Der Staub hing in der Luft wie Sterne. Auf einem Tisch lag ein Notizbuch, leer. Nahla setzte sich, schrieb ihren Namen auf die erste Seite und darunter einen Satz: „Ich werde nicht für Lärm leben, sondern für Klang.“ Es war kein Manifest, eher ein Faden.
Die Linienleser wurden zu ihren Freunden. Sie arbeiteten als Pfleger, Fahrerinnen, Programmierer, Barkeeper. Nachts liefen sie die Stadt ab, folgten Linien, setzten Markierungen: ein rotes Garn an einer Laterne, ein Kreidestrich auf einem Bordstein. Es waren keine Geheimzeichen, niemand musste sie verstehen. Und doch, Wochen später, blieben Leute stehen, berührten die Laterne, strichen mit dem Fuß über den Strich, als prüften sie, ob der Boden noch hält.
Eines Abends, die Luft schwer von Gewitter, führte die rote Linie Nahla auf ein Hochhausdach. Die Stadt lag zu ihren Füßen, unordentlich, schön. „Und nun?“, fragte sie laut. Der Wind antwortete, und die Antwort war kein Wort. Nahla band ihre rote Schnur an die Antenne. „Für den Nächsten“, sagte sie. Dann nahm sie aus der Tasche eine neue Schnur. „Für mich“, lächelte sie. „Erneuerung ist auch eine Linie.“ In den Tagen danach kündigte sie nicht ihren Job, schrieb keine großen Reden. Aber sie hörte anders zu. Sie fragte Menschen am Telefon nach ihren Kindern, nach dem Wetter. Manchmal lachten sie. Der Bonus blieb Bonus, die Stadt blieb hart. Aber in ihr wuchs eine Ruhe, die wie eine verlässliche Farbe war. Und wer nachts die richtige Straße nahm, sah manchmal, wie eine sehr dünne, sehr rote Linie über den Asphalt wanderte und wusste—jemand hält den Faden.